Kunstwerk des Jahres 2015

Die Pietá auf dem Grabe des Persischen Generalkonsuls Hermann Ahlswede (1869-1935)

Am 17. September 1903 heiratete Hermann Ahlswede in Föhrste bei Alfeld die Liebe seines Lebens, seine Cousine Wilhelmine Hermine Emilie Frieda geb. Ahlswede, drei Tage vor ihrem 21. Geburtstag.
Als sich Louis Mautner im Jahre 1904 aus dem Geschäft zurückzog, übernahm Hermann Ahlswede dessen Firmenanteile.
Im mondänen Leipziger Stadtteil Gohlis begann im Jahre 1909 am Kickerlingsberg 16 der Bau einer prächtigen Villa für Hermann Ahlswede, die er dann ab 1911 mit seiner Frau Wilhelmine und den drei Töchtern standesgemäß bewohnte. 
Wenig später, um 1912, entstand in der Leipziger Nikolaistraße 25 ein neues Geschäftshaus, an dessen Fassade der deutlich angebrachte Schriftzug „MAUTNER und AHLSWEDE“ vom Erfolg der Firma kündete und der gleichzeitig stolz auf Niederlassungen in Paris, London und New York verwies.

Ahlswedes Einfluss in der Firma wuchs während des 1. Weltkrieges von Jahr zu Jahr, selbst  nach dem verlorenen Krieg, dem Untergang des Kaiserreiches und der Inflation. Spätestens 1924 erfolgte die Berufung des Hermann Ahlswede zum Generalkonsul von Persien, bevor er wenig später schließlich der Alleininhaber von „Mautner und Ahlswede“ wurde.

Der Generalkonsul Hermann Ahlswede, der unermüdliche Großkaufmann voller ehrbarer Redlichkeit, starb am 19. September 1935, nur wenige Stunden vor dem Geburtstag seiner Frau. Ein Herzschlag beendete völlig unverhofft sein Leben im Alter von erst 65 Jahren.
In seinem hinterlassenen Testament bestimmte er seine Frau zur Alleinerbin und die drei Töchter Friedel, Edith und Inge – auch im Falle der Wiederverheiratung seiner Frau – zu deren Nacherben.

Nach einer erhebenden Trauerfeier am 23. September, einem Montag, um ¾ 12 Uhr in der Hauptkapelle des Südfriedhofes begann anschließend um 12.48 Uhr im dortigen Krematorium die Einäscherung des Leichnams von Hermann Ahlswede.

Bereits am 26. Februar 1918 hatte der seinerzeit noch keine fünfzig Jahre alte Hermann Ahlswede den Platz seiner letzten, hundertjährigen Ruhestätte ausgewählt und am gleichen Tage dafür auch den stolzen Preis von 5400 Goldmark bezahlt – die 54 Quadratmeter umfassende Wahlstelle No.126 in der XI. Abteilung des Südfriedhofes. 
Weitergehende Verfügungen aber hatte Hermann Ahlswede diesbezüglich seitdem nicht getroffen.
Seine Witwe Wilhelmine, genannt Minna, beauftragte Ende September 1935 den Leipziger Baumeister Alfred Raue mit der unverzüglichen Errichtung einer Urnengruft innerhalb der Grabstätte, in die dann am 07. Oktober 1935 die Asche ihres verstorbenen Gatten eingesenkt wurde.
Eine monolithische, schwere Platte aus Muschelkalkstein verschloss fortan die Asche des Hermann Ahlswede.

Nachdem am 08. April 1936 der Gohliser akademische Bildhauer Max Alf Brumme bei der Verwaltung des Südfriedhofes die Errichtung eines Grabmales auf der Grabstätte Ahlswede beantragt hatte, wurde am 12. Mai 1936 dieses große Werk der Sepulkralplastik über dem Grabe des Generalkonsuls Hermann Ahlswede errichtet.

Das Grabmal, eine von Brumme geschaffene Pietá, deren Bronzeguss in der berühmten Leipziger Erzgießerei des Traugott Noack erfolgte, wurde auf einen quadratischen Block aus geschliffenem Jura-Marmor mit einem Gewicht von 67 Zentnern gesetzt, der sich über einem zweistufigem Sockel vor dem Grabe aufbaut.
Der Name von Hermann Ahlswede samt seinen Lebensdaten kündete nun in bronzenen Lettern auf dem mächtigen Marmorsockel davon, dass dies der Grabesort der Familie Ahlswede sei, und schmückte als unvergängliche Erinnerung an ihn diesen Stein.

Inspiriert wurde Wilhelmine Ahlswede zur Beauftragung der Pietá nach Aussage ihrer Enkelin Roswitha Macintosh durch die berühmte, 1498/1499 als Grabmal für den französischen Kardinal Jean de Bilhéres geschaffene Marmorarbeit des Michelangelo im römischen Petersdom.

Vieles spricht für diese Entstehungsvariante der Pietá als ein Ahlswede´sches Auftragswerk, denn es ist durchaus höchst verwunderlich, dass sich nach nahezu anderthalb Jahrzehnten auf der 1918 erworbenen Grabstätte der Familie Ahlswede noch immer kein Grabmal fand, was übrigens  auch ein beispielloses Versäumnis in Hinblick auf die üblichen Gepflogenheiten auf dem Südfriedhof darstellte.
Gleichsam kann die Entstehung der Pietá auch durchaus der Eigeninitiative des Künstlers Brumme, dessen Werkschaffen sich in hohem Maße im sakralen Kunstraum findet, zuzuschreiben sein.
Einem solchen Motiv, welches seit Jahrhunderten die Künstler immer wieder herausforderte, wollte sich auch Max Alf Brumme in seinem Werkschaffen ganz sicher nicht verweigern.*1
Zumal sich in dieser Zeit auf dem Friedhof von Gohlis – nahezu vor seiner Haustür – schon seit Jahrzehnten zwei große Zeugnisse dieser Darstellung als Sepulkralplastik befanden, eine Marmorarbeit von Johannes Rietschel (1828-1910) und ein Bronzeguss von Johann Rössner (1841-1911).
Aber schlussendlich ist der Autor nach kritischer Befragung der Ahlswede-Enkel vom Auftragscharakter des Werkes überzeugt.
Hermann Ahlswede litt sein Leben lang an den Folgen einer schweren Malaria-Erkrankung, die er sich in seinen jungen Jahren in Afrika zuzog. Beständig wiederkehrende Fieberschübe mahnten ihn, dass seinem Leben enge Grenzen gesetzt sind. Und so ist plausibel, dass die Eheleute Ahlswede zu Beginn der dreißiger Jahre der fragmentarischen, nur auf einer Urkunde bestehenden Grabstätte eine endgültige Gestalt verleihen wollten. Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht absehbar, dass der Tod die liebenden Eheleute Ahlswede so bald und so rasch heimsuchen wird.

Aber sicher war es dann für die Witwe Wilhelmine Ahlswede wirklich tröstend, als im Frühjahr 1936 der Genius der Pietá den ganzen Grabesort ihres verstorbenen Gatten beseelte.

Wenngleich der Bildhauer Max Alf Brumme hier keineswegs versucht hat, die nahezu betörende Schönheit der Renaissance-Pietá des Michelangelo mit der ganzen Opulenz ihrer Gewandung und ihrer würdevollen Schmerzbewältigung, die im absoluten Gottvertrauen sogar von einer gewissen Gelassenheit begleitet wird, nachzuahmen, so entspricht seine Pietá wohl durchaus noch eher der unbeschreiblichen Dramatik des Todes von Hermann Ahlswede. 
Die Ahlswede-Pietá, wie wir sie nennen wollen, zeigt uns eine wirkliche Mater Dolorosa, eine wirkliche Schmerzensmutter, die jeden Betrachter zutiefst beeindrucken muss, sein Herz und seine Seele deutlich spürbar ergreift.
Alles menschliche Leid dieser Welt, alle seelische und körperliche Erschöpfung und schließlich die unsagbare Trauer über den Verlust des Liebsten in der Welt versinnbildlichen sich in dieser erzenen Grabesplastik.

Wie die Gottesmutter Maria ihren einzigen Sohn beweint, ihn umfasst, als wolle sie ihn nicht mehr hergeben, so verkörpert gleichermaßen dieses Bildwerk auch das unendliche Seelenleid der Witwe Ahlswede nach dem Todesverlust ihres geliebten Gatten.  
Aber ein kleines, fast unmerkliches Lächeln zeigt sich im Antlitz der Gottesmutter Maria – es strahlt hoffnungsvolle Tröstung aus, Verheißung auf ein ewiges Leben und auf ein Wiedersehen im Reiche Gottes.
Die Eheleute Wilhemine und Hermann Ahlswede waren gläubige Christen, denen die Pietá über ihrem Grabe nicht nur ein repräsentatives Kunstwerk war, sondern vor allem ein Symbol des Trostes und der christlichen Hoffnung. Es war für sie am Grabesort, im Angesicht des Todes, auch ein Glaubensbekenntnis.


*1  Am Ende seines Lebens verwendete Max Alf Brumme bei der Gestaltung seiner eigenen Familiengrabstätte erneut das Motiv der Pietá, wenngleich als ein in französischem Kalkstein gearbeitetes Relief.     

Auszugsweise zitiert aus:
Alfred E. Otto Paul  „Die Kunst im Stillen – Kunstschätze auf Leipziger Friedhöfen“ Band 05, S.98 ff