Kunstwerk des Jahres 2023
Das verlorene Grabmal der Sophie Margarethe Schlichting (1865 – 1928)
In der XIX. Abteilung des Südfriedhofes wurde am 14. April 1928 die vier Tage zuvor im Alter von erst 62 Jahren gestorbene Sophie Margarethe Schlichting geborene Hasselbrack beerdigt. Sie war die Ehefrau des Leipziger Großschlächters Willy Schlichting, der am Tage ihrer Beerdigung die beiden Rabattengräber No.96 und No.97 in der XIX. Abteilung des Südfriedhofes für 30 Jahre gelöst hatte.
Die Eheleute wohnten vermutlich zeitlebens in der Lößniger Straße in der südlichen Vorstadt, in unmittelbarer Nähe des im Jahre 1888 eröffneten Leipziger Schlachthofes. Der Großschlächter Willy Schlichting, der auch als Großfleischer firmierte, betrieb also dort sein sicher recht einträgliches Geschäft.
Wir können davon ausgehen, dass noch vor dem Totensonntag des Jahres 1928 das recht opulente Grabmal errichtet wurde, dessen Gesamthöhe etwa zwei Meter betragen haben dürfte. Konkret handelt es sich um eine Grabmalschöpfung des florentinischen Bildhauers Professor Alfredo Neri (1862-1928), für welche von der Württembergischen Metallwarenfabrik – Abteilung für Galvanoplastik – in Geislingen an der Steige die Rechte der Vervielfältigung erworben und welches schließlich in entsprechender Stückzahl seriell gefertigt wurde. Die weibliche Figur mit der Bezeichnung „Trauer“ ist eine sogenannte Katalogware, weil man sich derartige Werke verschiedenster Bildhauer in einer breiten Produktpalette in entsprechenden Katalogen der WMF besehen und auswählen konnte. Ein renommierter Steinmetz fertigte dann passend zur Figur nach Kundenwunsch ein individuelles Grabmal.
Hier dürfte der Leipziger Steinmetz – und Bildhauermeister Alfred Fränzel tätig gewesen sein, der aus schwedischem Syenit dieses Grabmal schuf, welches er in seiner Art und Gestaltung der Figur anpasste. Die Figur ist eine Hohlgalvano, die sich im Katalog No.141 der WMF auf der Seite 30 als No.G5 finden lässt, ihr Preis betrug beispielsweise im Jahre 1932 stattliche 1.400.- Reichsmark. Hinzu kamen dann der Preis für die Anfertigung des steinernen Grabmales und die Kosten der Fundamentierung und Aufstellung. Derlei Grabmale bedienten überwiegend repräsentative Ansprüche des gehobenen Mittelstandes, die damit gleichzeitig auf ein wirtschaftlich erfolgreiches irdisches Leben und ihre angesehene gesellschaftliche Reputation verweisen wollten. Nicht unerwähnt wollen wir hier die Kosten des Bestatters und die Gebühren der Friedhofsverwaltung für den Erwerb des Nutzungsrechtes an der Grabstätte, die Kapellenbenutzung etc. lassen – insgesamt war dadurch der Leipziger Südfriedhof in seinem Grabbestand immer deutlich geprägt von einer erheblichen sozialen Differenzierung, aber auch von einer nicht zu unterschätzenden gesellschaftlichen Nötigung.
Aber auch das Leben des Großschlächters Willy Friedrich Adam Schlichting währte nicht länger als das seiner bereits dahingegangenen Frau, die anderthalb Jahre älter war als er – so wurde auch Willy Schlichting nur 62 Jahre alt, starb am 23. Juli 1929 und wurde vier Tage darauf rechts neben seiner Frau im Rabattengrab No.97 ebenso in einfacher Grabestiefe beerdigt.
Wenngleich die Grabstätte mindestens bis zum April 1959 gelöst und bezahlt worden war, wurde aber bereits am 01. Dezember 1950 von einem Hinterbliebenen namens Blasius Schaab der Grabschein zurückgegeben und damit die Grabstätte aufgegeben, d.h., die Grabhügel wurden eingeebnet. Mit einigem Aufwand erfolgte in jener Zeit der Abbau des Grabmales und dessen Verbringung an einen anderen Ort, der sich vermutlich in süddeutschen Gefilden befand und dort für gutes Geld den Eigentümer wechselte.
Allein durch den Umstand, dass das gewaltige Betonfundament im Bereich der Grabstätte blieb, wurde die Grabstätte von der Friedhofsverwaltung für Nachbestattungen gesperrt, wodurch die beiden Gräber der einst kinderlosen Eheleute Schlichting bis heute seit nunmehr bald hundert Jahren unberührt geblieben sind und so mögen sie ruhen in Frieden.
Alfred E. Otto Paul
Kunstwerk Archiv